Hanne Darboven, Peter Dreher, Toulu Hassani, Erwin Hapke, Alex Müller und Sophia Pompéry

Der Mensch braucht Gewissheiten und verlässliche Parameter. Er strukturiert, vermisst, vergleicht und sucht nach Erkenntnis, um die eigene Lebenswirklichkeit in erklärbare Modelle zu übersetzen. Denn in einer geordneten Welt scheint für unkontrollierbare Zufälle kein Platz zu sein; Struktur suggeriert Sicherheit in einer eigentlich beunruhigend instabilen Welt. Jedoch sind diese vom Menschen erschaffenen Systeme stets gesellschaftliche Vereinbarungen, die sich tradiert und etabliert haben, die aber immer auch anders sein könnten. Jede Gesellschaft schafft sich die Welterklärungsmodelle, die ihren Ansprüchen und Bedürfnissen, ihrer Kultur und Religion, ihren Werten und Machtverhältnissen entsprechen.

Die Ausstellung Geordnete Verhältnisse versammelt künstlerische Positionen, die bestehende natur­wissenschaftliche, gesellschaftliche und philosophische Welterklärungsmodelle reflektieren oder auch gänzlich neue Ordnungssysteme entwickeln. So entstehen überraschende Bildmetaphern, die neue Perspektiven auf die komplexen Zusammenhänge unserer Welt anbieten und alternative Strukturen, Systematiken und Interdependenzen aufzeigen. Ein Fokus liegt auf dem komplexen Phänomen Zeit, das alle Künstler*innen der Ausstellung auf die eine oder andere Weise thematisieren. Sie finden Bildäquivalente für die Zeit, ihr Voranschreiten ebenso wie für ihre Relativität, indem beispielsweise ein Kalender in den Mittelpunkt gerückt wird, Zeichnungen einen konkreten Zeitraum visualisieren, Malerei in extremer Langsamkeit entsteht und ein Gesamtkunstwerk über Jahrzehnte sukzessive wächst.

Raum 1

Hanne Darboven

Der Mensch verfügt über kein eigenes Sinnesorgan, mit dem er das Voranschreiten der Zeit direkt empfinden kann. Ihre Wahrnehmung geschieht indirekt, über die Abfolge von Ereignissen oder über die Beobachtung der Veränderung der Dinge. Eine Uhr oder ein Kalender stellen Regeln für das komplexe Phänomen Zeit auf. Sie geben für unseren Alltag einen Rhythmus vor und strukturieren den kontinuierlichen Fluss der Zeit.
Hanne Darboven (*1941 in München; †2009 in Hamburg), die als eine der bedeutendsten Vertreterinnen der Konzeptkunst gilt, ist berühmt für ihre seriellen Schreibarbeiten und datumsbasierten Quersummenberechnungen, die sie als wandüber­greifende Blöcke identisch gerahmter Papierarbeiten präsentiert. Ihre Berechnungen ermittelt die Künstlerin ab 1968 nach einer gleichbleibenden Regel. Grundlage sind die numerischen Datumsangaben, wobei die Ziffern der Jahrhundertangabe von ihr ausgespart werden. So wird beispielsweise aus dem 15. Dezember 1976 die Angabe 15.12.76. Aus diesen Ziffern bildet Hanne Darboven eine Quersumme: Sie addiert die Zahlen der Tages- und Monatsangabe und zählt die beiden Ziffern der Jahreszahl einzeln hinzu: 15+12+7+6=40. Der auf diesem Weg ermittelten Summe fügt die Künstlerin das Kürzel „K“ für „Konstruktion“ oder „Kasten“ hinzu. Diese K-Werte visualisiert Hanne Darboven durch handgezeichnete Kästchen oder auch Wellen­zeichnungen, die an eine abstrahierte Handschrift erinnern. 40 Kästchen oder auch 40 Wellen repräsentieren somit den K-Wert 40. Dieses System bewegt sich zwischen den K-Werten 2 und 61, zwischen dem ersten und dem letzten Tag eines Jahrhunderts: 1.1.00 (1+1+0+ 0=2) und 31.12.99 (31+12+9+9=61). Wie ein roter Faden ziehen sich diese datumsbasierten Berechnungen durch das reiche Œuvre Hanne Darbovens.

Das in der Kunsthalle Nürnberg erstmals museal präsentierte und aus 101 Blättern bestehende Kalenderbuch 92 zeigt Aufnahmen der Kalenderseiten, die die Künstlerin teils mit Termineintragungen, teils mit kurzen Notaten und Zitaten, den Tagesrechnungen sowie den wellenförmigen Schreiblinien versieht. Für jeden Tag des Jahres 1992 ermittelt Hanne Darboven am Spaltenende unter der Bemerkung "Important" die jeweilige Tagesrechnung, deren Wert sie dann durch zu- und abnehmende Wellenlinien bildhaft darstellt. Jedes Kalenderblatt zeigt zudem die handschriftlich ergänzten und im Anschluss durchgestrichenen Worte „heute/today“. Die lapidare Angabe erscheint wie eine tägliche Selbstverortung und -vergewisserung im kontinuierlichen Lauf der Zeit.
Hanne Darboven visualisiert das Werden und Vergehen der Zeit durch ein von ihr festgelegtes System. Jeden Tag, sei er eintönig oder ereignisreich, wird von ihr methodisch immer gleich objektiv beziffert und eingeordnet. Die US-amerikanische Kunsttheoretikerin Lucy Lippard, Wegbegleiterin und Unterstützerin Hanne Darbovens, hat die datumsbasierten Aufzeichnungen definiert, als einen „Prozess, der Zeit benötigt, der die Zeit unter anderem zum Thema hat und dem die Zeit gleichzeitig (in Form des Kalenders) als numerische Grundlage dient“.

Raum 2 - 4

Toulu Hassani

Um 1900 stehen Computer nicht auf dem Schreibtisch, sondern sie sitzen davor. Denn der Begriff steht für Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit ihrer Rechenleistung verdienen. Computer, also Rechnerin, lautet auch die Berufsbezeichnung von dutzenden Frauen, die seit Ende des 19. Jahrhunderts am amerikanischen Harvard College Observatory tätig sind. Edward Charles Pickering, Direktor des Instituts, fotografiert ab 1877 systematisch den Nachthimmel und führt damit die Arbeit seines Kollegen Henry Draper fort, der 1872 als Erster erfolgreich das Spektrum eines Sterns aufnimmt und als Pionier der Astrofotografie wie Spektrografie gilt. Tagsüber werden die Fotoplatten dann ausgewertet. Dass Pickering für diese Arbeit Astronominnen beschäftigt, ist keine feministische, sondern eine rein kaufmännische Entscheidung. Mit Stundenlöhnen zwischen 25 und 50 Cent zahlt er den Frauen den Lohn eines einfachen Arbeiters, obwohl „Rechnerinnen“ wie Williamina Fleming oder Annie Jump Cannon komplexe Berechnungen durchführen und mehr als zehn­tausend Sterne katalogisieren. Basierend auf den beobachteten Spektralklassen, unterbreiten sie einen Vor­schlag zur Klassifikation der Sterne, der bis heute Gültigkeit besitzt: Die Buchstaben O B A F G K M stehen für den Helligkeitswert bzw. für die chemische Zusammensetzung eines Himmelskörpers. Der aus diesen Buchstaben gebildete Satz „Oh Be A Fine Girl Kiss Me“ dient dabei als Merkspruch.

Die Geschichte der als „Harvard Computers“ bekannten Forscherinnen sowie ein Foto des Nachthimmels über ihrem Atelier sind Ausgangspunkt für die sechsteilige Bildreihe Oh Be A Fine Girl Kiss Me  von Toulu Hassani, der Marianne-Defet-Malerei-Stipendiatin 2021/22 der Kunsthalle Nürnberg. Auch die Künstlerin definiert in diesen Gemälden ein spezifisches Ordnungssystem: Die ersten fünf Leinwände Oh Be A Fine Girl Kiss Me I bis V unterteilt Toulu Hassani in jeweils fünfzehn gleichgroße Flächen. Jeweils drei der fünfzehn Felder zeigen gemalte Ausschnitte des fotografierten Nachthimmels. Würden diese Ausschnitte der fünf Leinwände aneinandergelegt, ohne die jeweilige Position zu ändern, würden die fünfzehn Teile sich wieder zum vollständigen Sternenbild zusammenfügen, wie es in der die Serie abschließenden Arbeit Oh Be A Fine Girl Kiss Me VI  zu sehen ist. Die verbleibenden Felder jeder Leinwand füllt Toulu Hassani mit abstrahierten Darstellungen von Sternspektren, die sie in einem Lexikon für Astronomie gefunden hat und mit einer für ihr Werk neuen Airbrush-Technik malerisch umsetzt. Die Airbrush-Technik befördert eine gewisse visuelle Unschärfe in der Abbildung der Spektren, die sich auch auf die stark vereinfachte grafische Darstellung der Lexikon-Vorlage bezieht.

Die Farbigkeit der fünf Gemälde  Oh Be A Fine Girl Kiss Me I bis V hat verschiedene Bezugspunkte: So verweist sie z. B. auf Toulu Hassanis Wandinstallation Minus Something aus dem Jahr 2016. Hier fügte die Künstlerin 118 Schwarz-Weiß-Blätter unterschiedlicher Größen zu einer gerasterten Fläche zusammen. Die Blätter zeigen Schattierungen und Weißräume, die durch Lichteinfälle an einem herkömmlichen Kopierer erzeugt wurden.  Oh Be A Fine Girl Kiss Me V  thematisiert das tatsächliche Farbspektrum eines Sterns. Die subtilen Farbabstufungen erzeugt die Künstlerin durch das Mischen von Cyan, Magenta und Gelb.

Linien, die innerhalb der Farbflächen wiederkehren, verweisen auf die sogenannten Fraunhoferlinien bzw. Absorptionslinien der Sternspektren. Es handelt sich um dunkle Linien, die im Sonnenspektrum sichtbar werden, weil Gase in der Photosphäre, also der sichtbaren Sonnenoberfläche, einen Teil des Sonnenlichts ab­sorbieren. Diese Linien sind nie absolut schwarz, sondern in Abhängigkeit von der chemischen Zusammen­setzung des absorbierenden Gasgemisches, in ihrer Farbintensität reduziert. So erlauben die Fraunhofer­linien Rückschlüsse auf die chemische Zusammensetzung und die Temperatur der Photosphäre. Keine zarte Lineatur, sondern eine vergrößerte Darstellung dieser Absorptionslinien zeigt Oh Be A Fine Girl Kiss Me III. Innerhalb der durch die Vergrößerung zu Flächen gewordenen Linien ist das Schwarz stets unscharf und nur die Ränder besitzen klar definierte Kanten. Teils treten die einzelnen Flächen hervor, teils treten sie wieder in den Hintergrund und erzeugen die optische Täuschung von feinen Wölbungen an den Außenkanten. Die Unschärfe verweist erneut auf die im Lexikon gefundene grafische Vorlage.

Für die wellenförmigen Flächen, die sich beispielsweise in Oh Be A Fine Girl Kiss Me IV zeigen, zeichnete Toulu Hassani die durch den Kopierer zufällig entstandenen Schattierungen aus Minus Something nach, schnitt diese aus und nutzte die gewonnenen Formen als Schablonen. Auf der Leinwand treten die Flächen abwechselnd als positive oder negative Formen auf und entwickeln durch leichte Schattierungen eine Räumlichkeit, in der die Formen nahezu dreidimensional hervortreten.

Für die Ausstellung Geordnete Verhältnisse hat Toulu Hassani eine ephemere Wandarbeit konzipiert: Auf einer lavendelfarbenen Wandfläche zeigen sich Strukturen, die an langgezogene Wolkenbänder oder Wellenbögen erinnern. Diese gewellten Flächen und ebenso die Farbigkeit der Wand lassen an die Arbeit Oh Be A Fine Girl Kiss Me IV denken. Toulu Hassani hat für ihre Wandarbeit die Formen auf meterlange Papierschablonen übertragen und im Anschluss die Ränder der Schablonen mit einer Airbrush-Pistole so umfahren, dass sich die Strukturen nun in raumgreifender Dimension zeigen.

Aufgrund ihrer Faszination für künstlerische, philosophische und auch astronomische Ordnungssysteme beschäftigt sich Toulu Hassani immer wieder mit Sternbildkarten. Auszüge aus einer Sternkarte und eines Teilverlaufs der Sonne waren Grundlage für die vierteilige Arbeit Universal Grid, die wie eine präzise technische oder auch architektonische Zeichnungen wirkt. Die Künstlerin hat die Zeichnungen mit den rätselhaften Strukturen rückseitig in dunkles Epoxidharz eingegossen. Die abstrakt-geometrischen Formen scheinen vor dem dunklen Hintergrund zu schweben und wir versuchen, ihre Systematik zu verstehen. Eine konkrete Zuordnung wird uns jedoch verwehrt, da die Umrisse keine nachvollziehbare Logik besitzen. Universal Grid thematisiert für Toulu Hassani auch den unauflösbaren Widerspruch, der sich in diesen Karten dokumentiert, die stets auch ein Sinnbild für den menschlichen Drang nach Ordnung, Einteilung und Vermessung sind. So lässt sich die Absurdität, ein sich stetig ausweitendes Universum durch ein statisches, zweidimensionales Medium repräsentieren zu wollen, nicht auflösen. Doch, so schreibt die Autorin Lisa Felicitas Mattheis, geht es der Künstlerin nie „um eine direkte Übersetzung von wissenschaftlicher Erkenntnis und Theorie in die Sphäre der Kunst. Ihre Arbeiten möchten kein Vehikel anderer Disziplinen sein, indem Wissen lediglich visualisiert wird. Vielmehr erschafft Toulu Hassani in ihrer eigenen Formsprache universelle und übertragbare Analogien. Mittels des ihr vertrauten Repertoires aus reduzierten Linien, Farbe und Material entstehen offene Kunstwerke, die weit­reichende Assoziationen evozieren. Toulu Hassanis Arbeiten sind stille, poetische Annäherungen an kosmische Gesetzmäßigkeiten, die in all ihrer vermeintlich technisch-mathematischen Konstruiertheit eine unergründliche Sinnlichkeit ausstrahlen“.

Häufig oszillieren die Werke von Toulu Hassani zwischen Malerei und Objekt. Die beiden aus Epoxidharz gegossenen Reliefarbeiten thematisieren das Spiel mit Bildvordergrund und -hintergrund auf eigenständige Weise. Sie erscheinen wie eine Symbiose zweier Werkgruppen: einerseits der Gemälde von Toulu Hassani, die immer wieder vor- und zurückspringende Rasterstrukturen zeigen; andererseits bezieht sich die Künstlerin auf frühere Arbeiten, bei denen sie die Leinwand nicht bemalt hat, sondern der mit Leinwand bespannten Keilrahmen rückseitig mit Epoxidharz, Zement und Pigment ausgegossen wurde. Nach dem Trockenprozess wurde die Leinwand entfernt, so dass ein reliefartiges Objekt entstand. Die nun im Kontext der Ausstellung gezeigten Reliefs springen nicht nur optisch, sondern auch faktisch vor und zurück. Das schwarze Relief zeigt eine labyrinthartige Struktur; das blaue Relief zeigt die Raster leicht verrutscht und unregelmäßig und erinnert darin an die Gemälde von Toulu Hassani.

Mit ihren geometrischen Strukturen erinnern die Malereien von Toulu Hassani an Traditionen der abstrakten Ornamentik: Die kleinteiligen und auf Nahsicht angelegten Raster flimmern vor den Augen, da Bildvorder-und -hintergrund ständig ihre Rollen zu tauschen scheinen. Das dem Raster zugrundeliegende System weist auf den zweiten Blick Verschiebungen und Richtungswechsel auf. Es scheint sich zu emanzipieren und eine eigene Logik zu entwickeln. Toulu Hassanis Werke führen minimalistische Malereitraditionen ausge­sprochen eigenständig weiter und verhandeln dabei grundlegende Fragen nach Farbe und Komposition, nach Form und Struktur, nach Räumlichkeit und Flächenaufteilung. Meisterhaft changieren ihre filigranen Arbeiten zwischen Malerei und Zeichnung sowie Malerei und Objekt. Der Bildträger selbst gerät immer wieder in den Fokus und Objekthaftigkeit wie Materialität von Malerei treten hervor.

Wie manifestiert sich Zeit in Bildern? Die Werke von Toulu Hassani repräsentieren Zeit, da ihnen ihr lang­wieriger Entstehungsprozess eingeschrieben ist. Die konzeptuelle Langsamkeit der Werkgenese wird erfahr­bar; ihre Gemälde scheinen physische wie mentale (Lebens-)Zeit zu symbolisieren. So ist jedes dieser Werke auch ein Plädoyer für ein sukzessives, prozessuales Arbeiten und damit ein Gegenentwurf zu einer leistungs­orientierten Welt, in der der Faktor Zeit auch ein zentraler Parameter der Ökonomie ist. Im besten Fall korrespondiert die langsame Entstehung dieser Bilder mit einer entschleunigten Rezeption: Durch eine kontemplative Konzentriertheit, die sich dem Nachvollziehen des künstlerischen Prozesses stellt, erhalten wir vertiefte Einblicke in die Entstehung der Gemälde.

Raum 5

Alex Müller

Die Zeichnungsserie Vom Mähen zum Frieden von Alex Müller erscheint wie ein visuelles Tagebuch. Immer ein Blatt im Format DIN A3; immer eine Zeichnung pro Tag: Basierend auf diesem Standard in Format und Zeiteinheit entwickelt sich eine Visualisierung für ein konkretes Zeitfenster. Das erste Blatt Tag 1 c. Mähen zeichnet Alex Müller am 17. März 2020, am Tag der Krebsdiagnose ihres Vaters. Die letzte Zeichnung Tag 107 c. peace entsteht am 3. Juli 2020, 107 Tage später an seinem Todestag.

Dieses für die Künstlerin einschneidende Ereignis fällt in die Zeit, in der sich die Welt und unser Zusammen­leben durch Covid-19 verändert und zum Schutz älterer und kranker Mitbürger*innen ein Besuchsverbot in Pflegeheimen und Krankenhäusern erlassen wird. Auf einem Großteil der Zeichnungen erscheint ein stilisierter Repräsentant des Corona-Virus: als omnipräsenter Begleiter im Alltag, als wundersame Traum­figur, als bedrohlicher Stalker, als Naturelement, Kunstobjekt oder skurriler Einrichtungsgegenstand. Seine Darstellung als stachelige Kugel, die auch an die mittelalterliche Schlagwaffe des Morgensterns erinnert, lässt an die ersten Visualisierungen des Virus im Frühjahr 2020 denken. Auf anderen Blättern der Serie, beispiels­weise bei Tag 26 c. time, Tag 89 c. Hello again oder Tag 97 c. suitcase 19, repräsentiert auch die Ziffer 19 das Virus.

Auch wenn die Serie einer klaren konzeptuellen Idee folgt, so sind die einzelnen Zeichnungen doch in ihrer Ästhetik und Wirkung sehr heterogen: Die ersten Blätter sind einfarbig, mit schwarzem, rotem oder blauem Fineliner, mit Kugelschreiber oder Tusche linear gezeichnet. Ab Tag 30 c. Isolation werden die Zeichnungen zwei- oder mehrfarbig, kehren jedoch auch immer wieder zur Monochromie zurück. Ab Tag 61 c. little town finden sich vollständig durchkomponierte Blätter. Zunehmend weisen die Zeichnungen auch eine beeindruckende malerische Opulenz auf. Dieses Nebeneinander lässt sich auf eine inhaltliche Ebene übertragen. Auch hier schließen sich Mikro- wie Makrokosmos keinesfalls aus: Das weltpolitische Geschehen, das große Ganze, findet sich ebenso wie private Alltagsszenen, persönliche Erinnerungen und zwischen­menschliche Konstellationen.

Vom Mähen zum Frieden zeigt eine komplexe Bildwelt mit spezifischer Ikonografie, sich konstruierend aus einem vielfältigen Figurenarsenal, ornamentalen und grafischen Strukturen und einem unerschöpflichen Reichtum an erzählerischen Momenten. Die Zeichnungen, jedes Blatt mit einem spezifischen Titel versehen, thematisieren eine gesellschaftliche Ausnahmesituation und persönlichen Schmerz, transportieren aber zu­gleich Humor, Hoffnung und unbändige Fantasie. Auch repräsentieren die 107 Arbeiten den Wunsch der Künstlerin, einer als unkontrollierbar empfundenen Ausnahmesituation eine Struktur zu geben. So ist das Bildtagebuch Vom Mähen zum Frieden nicht nur das poetische Manifest eines menschlichen Daseins in einem klar definierten Zeitraum, sondern auch ein Rettungsanker und Zufluchtsort.

Raum 6

Sophia Pompéry

Ein einfaches Wasserglas steht im Zentrum der Fotoserie Stilles Wasser von Sophia Pompéry, in der die Künstlerin mit Wahrnehmungstäuschungen spielt. So scheint das Glas über einer Tischkante zu schweben oder einen unmöglichen Schatten zu werfen. Eine im Glas stehende Kerze brennt, obwohl sie von Wasser umgeben ist, und eine Glühbirne wird im klaren Wasser plötzlich unsichtbar. Die Fotografien wecken durch ihre Absurditäten und spielerischen Paradoxien unseren Zweifel, und unsere Irritation führt unweigerlich zu einer Hinterfragung optischer und physikalischer Gewissheiten.

Immer wieder thematisiert Sophia Pompéry in ihren Arbeiten, so auch in Plenty Empty, die Trägheit des Menschen, an vertrauten Sehgewohnheiten zu zweifeln. Selten hinterfragen wir unsere Routinen und Wahrnehmungsgewohnheiten oder den Absolutheitsanspruch etablierter Welterklärungsmodelle. Die menschliche Wahrnehmung, so sieht es auch die Kognitionspsychologie, ist stets vorstrukturiert: Menschen sind nicht in der Lage, genau das kognitiv zu verarbeiten, was die Sinnesorgane sehen, riechen, spüren oder hören. Vielmehr treffen die eingehenden Informationen auf einen Komplex von Erfahrungen, Erwartungen und Wertungen, der sämtliche Eindrücke bereits filtert und strukturiert, bevor wir uns ihrer überhaupt bewusst werden. Die Werke von Sophia Pompéry laden uns jedoch ein, die eigenen Wahr­nehmungen anzuzweifeln, Fragen über das Wesen der Wirklichkeit zu stellen und über die Wahrscheinlich­keit der gezeigten Phänomene bzw. über die (Un-)Möglichkeit ihres Auftretens nachzudenken. Dabei geht es der Künstlerin nicht um die Widerlegung naturwissenschaftlicher Gesetze im Sinne einer Dichotomie wahr/­unwahr, sondern um die gleichsam naheliegende wie unendlich komplexe Frage, ob es nicht auch anders sein kann. So ist auch die Fotoserie Stilles Wasser das Ergebnis wissenschaftlichen Experimentierens und einer Suche nach der faszinierenden Ausnahme von der Regel. Erst wenn der gewünschte Effekt im Analogen erreicht wird, hält die Kamera das Ergebnis fest; eine Modifikation oder Nachbearbeitung am Computer erfolgt nicht.

Sophia Pompérys installative Arbeit Worlds zeigt Reliefkarten unterschiedlicher Formate, wie wir sie aus dem Geografieunterricht kennen. Diese wurden mit Tafelfarbe vollständig übermalt, so dass Maßstäbe, Grenzen, Flussläufe, Städte und Straßennetze nicht länger sichtbar sind. Die Reliefkarten, die ursprünglich Korsika, Kalifornien, Teneriffa, die Île-de-France oder auch das Death Valley zeigten, treten uns wie eine stumme Prozession entgegen. Sie bieten nun Platz für imaginäre Weltentwürfe, die wir nach unseren subjektiven Gesetzmäßigkeiten und Ordnungen erdenken können. Die Tafeln werden zu Metaphern für das Hinterfragen von geopolitischen Machtkonstellationen und Besitzansprüchen. Denn wenn die vom Menschen definierten Grenzen verschwinden, wird die Imagination zum zentralen Element und statische Definitionen werden flüchtig.

Raum 7

Peter Dreher

„1972 entstand ein erstes einzelnes Bild vom Glas. Seit 1974 entstehen jedes Jahr mindestens 50 Bilder, die ein leeres Wasserglas auf weißer Tischfläche vor weißem Hintergrund zeigen. Das gemalte Glas ist in natürlicher Größe im Bild. Die äußeren Verhältnisse, wie Beleuchtung, Entfernungen, Bildformat bleiben unverändert.“ So beschreibt Peter Dreher den Ausgangspunkt für seine konzeptuelle Bildserie Tag um Tag guter Tag, die er über drei Jahrzehnte fortführt und in deren Kontext über 5.000 Gemälde entstehen. Stets im gleichen Format zeigt jedes Bild dasselbe zylindrischen Wasserglas; die Gemälde werden fortlaufend nummeriert, so dass sich jedes Bild innerhalb der Werkgruppe einsortieren lässt. Seltsam der Zeit entrückt präsentieren sich die Gläser in einem warmen Grauton. Trotz des klaren seriellen Konzepts behauptet jedes einzelne Gemälde einen starken Autonomieanspruch: Kein Glas ähnelt gänzlich dem anderen. Im Kontext der Ausstellung Geordnete Verhältnisse sind 45 Bilder dieses beeindruckenden Opus Magnum von Peter Dreher zu sehen.

Peter Dreher, bis zu seiner Emeritierung Professor an der Karlsruher Akademie der Bildenden Künste, definiert für Tag um Tag guter Tag ein Regelwerk, das malereiinhärente Kriterien verschiebt. Die Fragen nach Form, Komposition, Farbe und Flächenaufteilung wurden im Vorfeld definiert und sind somit für das Einzelwerk irrelevant. Auch weist seine Werkserie keine narrativen Elemente auf, es wird keine Geschichte erzählt. Durch die Wiederholung, so beschreibt es der Künstler in seinen Gesprächsnotizen aus dem Jahr 2012, verliert das einzelne Bild den Bezug zur Realität, die Malerei wird inhaltslos und ist somit nur noch der Malerei verpflichtet, der Malerei am Beispiel eines Glases. Entscheidend ist dabei der kontinuierliche Prozess: Ein Bild folgt auf das andere, ohne dass es vom Vorläufer eine stilistische oder inhaltliche Entwicklung hin zu den Folgewerken gäbe. Den Titel der Werkreihe entlehnte Peter Dreher dem Zen-Buddhismus: In der bekannten chinesischen Kōan-Sammlung Biyan Lu, die Fragen und Antworten von Zen-Meistern und deren Schülern versammelt, fragt im 7. Kōan der Meister: „Wir waren nun 15 Tage zusammen. Wie werden die kommenden 15 Tage?“ Seine Schüler wagen nicht zu antworten, so dass der Meister selbst die Antwort gibt: „Tag um Tag guter Tag.“

Für den Künstler war das Malen des Wasserglases auch ein Mittel der Selbstheilung; eine Aussage des Künstlers erinnert im Kontext der Ausstellung auch an Hanne Darboven und andere Positionen: „Wenn die Angst vor der Umwelt umschlägt […], so tritt manchmal etwas auf, das mit Kalendermachen zu tun hat, dem Festhalten des ‚Ich‘ an Daten und Tagen […]: immer wieder manifestieren, dass ich lebe, einen Pflock einschlagen in den Strom der Zeit, ein klein wenig Unsterblichkeit ertrotzen.“

Raum 8

Erwin Hapke

Sein Elternhaus im Kreis Unna, eine ehemalige Dorfschule aus dem Jahr 1839, war für Erwin Hapke ein Zufluchtsort. Hier faltete der promovierte Biologe – völlig zurückgezogen – über drei Jahrzehnte lang zehntausende Figuren aus Papier und Metall. Heuschrecken, Vögel, Pinguine, Rinder, Giraffen: Erwin Hapke entwarf eine eigene Ordnung für das Tierreich, schuf bei seinen komplexen Faltcodes durch Ähnlichkeiten eine Struktur, die genetische Verwandtschaft und Abstammung repräsentieren soll. Hinzu kommen tausende Papierfaltungen, die Menschen in allen Körperhaltungen zeigen, sowie Architekturmodelle mit ebenso enzyklopädischem wie künstlerischem Anspruch. Armeen von Insekten mit filigranen Fühlern und Flügeln besetzten in Erwin Hapkes Elternhaus ganze Räume. Andere Gruppen sind aus Papierbalkenmodulen konstruiert und erinnern an die Serienfotografien des britischen Fotografen Eadweard Muybridge, mit denen dieser im 19. Jahrhundert menschliche wie tierische Bewegungsabläufe studierte. Auch Erwin Hapke deklinierte die Bewegungen und Körperhaltungen zahlreicher Spezies mit der Gründlichkeit eines Wissen­schaftlers durch. Seine Faltungen klebte er oft mit Tesafilm auf Karton oder farbige Papptafeln, die er zu raumfüllenden Kompositionen anordnete. Parallel entstanden unzählige komplexe Konstruktions­zeichnungen, teils mit der Hand, teils mit einem Vektorprogramm am Computer entworfen, da Erwin Hapke das Nachfalten ermöglichen wollte.

Der Autodidakt Erwin Hapke sah sich als Künstler, und in zahlreichen im Haus verbliebenen Schriftstücken definierte er sein – inzwischen geräumtes – Wohnhaus als Museum. Er faltete sich eine eigene, komplex geordnete Welt, deren Erschaffer und einziger Bewohner er war. Dafür entkernte er sein Elternhaus zu­nehmend, ein Großteil des Mobiliars wurde auf den Speicher geräumt, um Platz für seine Kunst zu schaffen. Nach und nach entstand ein Gesamtkunstwerk, das selbst definierten Gesetzmäßigkeiten und einer konzeptuellen Idee folgte, die weit über die Kunstform des Origami hinausgeht.
Erwin Hapkes Werk erinnert beispielsweise an das Junkerhaus in Lemgo: Ende des 19. Jahrhunderts verkleidete der Künstler Karl Junker die Fassade seines Hauses mit geschnitzter Bauornamentik und überzog auch im Gebäudeinneren alle Wände und Decken mit geschnitzten und farbig gefassten Holz- und Dekorationselementen. Seine Schnitzereien bedecken die Wände wie eine zweite Haut, ebenso wie die Faltungen von Erwin Hapke die Wände und sämtliche Ablageflächen seines Elternhauses überwucherten. Auch andere Parallelen zur Kunstgeschichte lassen sich ziehen: Das wohl bedeutendste Beispiel für ein konzeptuelles Gesamtkunstwerk dieser Dimension ist Kurt Schwitters‘ Merzbau, eine Rauminstallation, die der Dadaist 1923 in seinem Atelier begann und die nach und nach auf die benachbarten Räume in seinem Haus überging. Erwin Hapke hat im Wohnbereich seines Hauses an eine Schranktür einen kleinen Zettel geklebt, der einen Satz von Kurt Schwitters zitiert: „Wir spielen, bis uns der Tod abholt.“

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