Nachrichten aus dem Rathaus

Nr. 43 / 14.01.2015

Ansprache von Oberbürgermeister Dr. Ulrich Maly am Mittwoch, 14. Januar 2015, beim Neujahrsempfang der Stadt Nürnberg im Foyer des NCC-West der NürnbergMesse

Anrede,

zunächst war für mich klar, dass ein zentrales Thema dieser Neujahrsrede das der Flüchtlinge und Asylbewerber sein würde. Es stellt ohne Zweifel eine Klammer zwischen Rückblick auf 2014 und Ausblick auf 2015 dar.

Seit Mitte Dezember ist ebenso klar, dass auch ein Wort zu „Pegida“ notwendig ist. Beides hat bei aller Widersprüchlichkeit der Botschaften – große Hilfsbereitschaft hier, dumpfe Überfremdungsängste dort – miteinander zu tun.

Seit einer Woche, seit dem Terroranschlag auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“, ist klar, dass auch dieser ungeheuerliche Mordanschlag eine Kommentierung erfordert.

Kurt Tucholsky hat die Frage „Was darf Satire?“ uneingeschränkt mit „alles“ beantwortet. Wer die französische Tradition der politischen Satire ein wenig kennt, weiß: Die Zeitschrift hat das sehr ernst genommen.

Demokratie und Meinungsfreiheit sind ohne die Freiheit der Satire nicht denkbar.

Die Terroristen konnten die Menschen in den Redaktionsräumen töten, aber nicht deren Ideale einer freien Meinungsäußerung, die auch die unseren sind.

Wenn es jetzt gilt, diese demokratischen Grundfreiheiten zu verteidigen und zu bewahren, sie vor dem Terror zu schützen, dann darf das, was sicherheitspolitisch nötig ist, nicht selbst zur Bedrohung dieser Grundfreiheiten werden.

Ruhe, Augenmaß und eine klare Haltung zur Presse- und Meinungsfreiheit sind nicht die schlechtesten Ratgeber in dieser Zeit.

Natürlich wird das Attentat von Paris wie ein Brandbeschleuniger wirken auf jene islamfeindlichen Einstellungen, an denen „Pegida“ und andere Rechtspopulisten herumzündeln.

Politiker aller Parteien suchen den richtigen Umgang mit alldem. Tatsächlich ist die Wahrnehmung widersprüchlich: Da erleben wir einerseits eine anhaltende Welle der Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen, ganz anders als vor zwei Jahrzehnten, als „Flüchtling“ oder „Asylant“ eher noch Schimpfworte gewesen sind.

Medien geben dem Leid der Menschen, die vor dem IS-Terror flüchten, ein Gesicht, und viele Menschen beginnen zu begreifen, dass sie, wären sie in der gleichen Situation, nicht anders handeln würden.

Andererseits gibt es mit „Pegida“ und Co. ein krudes Konglomerat von Ängsten, die sich in starken Sprüchen bis hin zur perfiden Aneignung der Parole „Wir sind das Volk“ ausdrücken.

Und nun sind alle überrascht. Wirklich?

Wir wissen aus der Vorurteilsforschung, aus jahrzehntelangen Studien zum Beispiel von Wilhelm Heitmeyer, der sich sein ganzes Wissenschaftlerleben lang mit ausländerfeindlichen, antisemitischen und islamfeindlichen Einstellungen der Menschen auseinander gesetzt hat, dass zwischen 15 und 20 Prozent der Bevölkerung dafür empfänglich sind.

In vielen Ländern Europas sind daraus rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien entstanden, in Deutschland bisher nicht in dieser Form. Nicht deshalb nicht, weil rechts der Union kein Platz mehr war und auch jetzt dort keiner ist. Ich halte diese These für viel zu kurz gedacht. Wohl eher, weil auf Grund unserer Vergangenheit Rechtsextremismus einem breiten gesellschaftlichen Bann unterliegt.

Und auch deshalb, weil CDU, CSU, SPD und Grüne immer auch jene „Stellvertreterpolitik“ betrieben haben, die denen, die ohne eigene Stimme durchs Leben gehen, auch zu ihrem Recht verholfen haben – wenigstens ein bisschen.

Papst Franziskus hat in seiner Weihnachtspredigt die Frage gestellt: „Haben wir den Mut, mit Zärtlichkeit die schwierigen Situationen und die Probleme des Menschen neben uns mit zu tragen (…)? Wie sehr braucht doch die Welt von heute Zärtlichkeit!“ Ein ungewöhnlicher Ausdruck, eine wahre Botschaft – unsereiner hätte wahrscheinlich eher von Empathie gesprochen.

Der Soziologe Heinz Bude schreibt: „Wer von Angst getrieben ist, vermeidet das Unangenehme, verleugnet das Wirkliche und verpasst das Mögliche.“

Ein kluger Satz. In diesem Zusammenhang ist es richtig und wichtig festzustellen, dass man die Ängste derer, die da montags in Dresden demonstrieren gehen, ernst nehmen muss, dass das aber keinesfalls bedeuten darf, sie sich zu eigen zu machen. Und dass das zweitens bedeutet, dass man die Ängste analysieren muss. Islamfeindlichkeit ist ebenso wie pauschale Ausländerfeindlichkeit eine Chiffre, eine Projektion für persönliche Zukunfts- und Abstiegsängste. Das erklärt manches, entschuldigt aber nichts. Deshalb hat die Kanzlerin recht, wenn sie die Menschen dazu auffordert „denen nicht zu folgen“ und konstatiert, es sei „Kälte, ja sogar Hass in deren Herzen“.

Die Organisatoren und politischen Trittbrettfahrer solcher Kundgebungen gilt es politisch zu stellen und, ja, auch zu bekämpfen. Deshalb hat auch Altkanzler Schröder recht, wenn er den „Aufstand der Anständigen“ fordert. Da geht es um die gesellschaftliche Kraft, die ein klares Wort der politischen Führungsleute in Verbindung mit zivilgesellschaftlichem Engagement entfalten kann. Das, was in Deutschland im Umgang mit dem Antisemitismus gelungen ist, ist bei der Islamfeindlichkeit auch möglich: ein klares, von allen geteiltes und verteidigtes „Nein!“

Denen, die mitlaufen, müssen wir klarmachen, dass sie sich irren. Ein Sündenbock ist ein Sündenbock und bleibt das auch – oft sehr lange.

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wird nicht richtiger, nur weil viele sie artikulieren. Und viele von denen, die da mitlaufen, sind Wähler, die meisten wohl Wähler gewesen – sie gehören mutmaßlich zu der Hälfte der Menschen in Deutschland, die sich aus der Wahlkabine verabschiedet haben und zwar mit „Adieu“ und nicht mit „Auf Wiedersehen“. Und das geht jetzt weit über „Pegida“ hinaus. Weil: Ehemalige Wähler gibt es viel mehr!

Ehemalige Unionswähler sind dabei genauso vertreten wie ehemalige SPD-Wähler, da habe ich keine Illusionen. Und gerade deshalb ist die „Absorptionstheorie“ falsch. Wer Rechtspopulisten entgegnen will, in dem er als Volkpartei in ihre Nähe rückt, wird sie eher selten schwächen, meistens stärken, wenigstens salonfähiger machen. Das zeigt der Blick auf Dänemark, die Niederlande, Großbritannien, Österreich in der Hochphase Haiders oder Italien. Das politische Koordinatensystem der großen und kleineren demokratischen Parteien kann der Schutzschirm gegen Rechtspopulisten und Rechtsextreme sein – gerade bei uns in Deutschland – aber nur, wenn das Koordinatensystem selbst nicht allzu beliebig verschoben wird. Haltung ist gefragt.

„Wer von Angst getrieben ist, vermeidet das Unangenehme, verleugnet das Wirkliche und verpasst das Mögliche.“

Heinz Bude hat untersucht, wer das ist, und drei soziologische Gruppen identifiziert, die mit ausgesprochener Islamophobie auffielen, etwa durch hohe Zustimmung zu der Aussage: „Muslimen sollte jede Form der Religionsausübung in Deutschland verboten werden.“

Der ersten Gruppe geht es im Großen und Ganzen gut: mittlerer Schulabschluss, finanziell und beruflich gesicherte Verhältnisse, Leben in der Gewissheit, die Lebensziele weitgehend erreicht zu haben.

Dennoch ist die Hälfte von ihnen pessimistisch. Sie wünschen sich eine Gesellschaft zurück, in der tradierte Werte wieder zählen: Sicherheit, Disziplin, Leistungswille. Sie wollen nicht gestört werden von Menschen, die anders denken und leben.

Die zweite Gruppe nennt Bude die „grundsätzlich Beleidigten“, das sind Menschen, die von Ausschlussempfindungen geplagt sind: finanziell und beruflich gefährdete Lebensverhältnisse, geringe Schulbildung, schwaches Selbstbewusstsein. „Modernisierungsverlierer“ sagte man früher. Dieses Empfinden sozialer Bedeutungslosigkeit erklärt die Feindlichkeit gegenüber Fremden und den Hass aufs „System“.

Die dritte Gruppe ist überraschend: Das sind Bürger, die sich als modern und weltoffen begreifen, sie sind relativ gut gebildet, leben aber trotzdem in prekären finanziellen und beruflichen Verhältnissen. Sie fühlen sich als Verlierer der ökonomischen Entwicklung und sind mit hohem Prozentsatz extrem zukunftspessimistisch.

Daran wird deutlich, dass die Sache mit dem rechten Rand so nicht stimmt. Die Frage ist und wird sein: Sind die großen Volksparteien in der Lage, „die Menschen auf Ziele zu orientieren, die das Gemeinsame betonen, die Zurückgelassenen mitnehmen, die Solidarität als Grundlage des menschlichen Lebens fühlbar machen“. (Bude)

Stellvertreterpolitik, Zärtlichkeit gegenüber den Menschen, solidarische Stadtgesellschaft – alles Synonyme für die Urversprechen der sozialen Marktwirtschaft, das auf gleiche Chancen für Alle unabhängig von der Herkunft, das auf einen fürsorglichen Sozialstaat, das auf eine bildungsgerechte Gesellschaft setzt. Ein Urversprechen, dem lange ein Urvertrauen entgegengebracht worden ist.

In dem Maß, in dem das Vertrauen in dieses Urversprechen schwindet – und das tut es Jahr für Jahr –, in dem Maß bereiten wir den Boden für den Abschied aus der Wahlkabine.

Die große Koalition hat mit einigen Maßnahmen versucht, dem entgegenzuwirken: Mütterrente, Rente mit 63, Mindestlohn. Mich erschreckt tatsächlich, mit welcher harten Kritik sogenannte Wirtschaftsweise dem entgegnen. Was steckt da für ein Weltbild dahinter? Das einer durch und durch effizienten Gesellschaft, einer Gesellschaft, die Menschen nach ökonomischem Nutzen kategorisiert? Das ist nicht mein Weltbild. Um nicht missverstanden zu werden: Ich will auch keine Welt, in der ein Staat jedem Menschen von der Wiege bis zur Bahre einen Sozialarbeiter an die Seite stellt. Da bekäme der Sozialstaat orwellsche Dimensionen. Aber ich möchte schon eine Welt, die Chancen produziert für die jungen Menschen – unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern, die Möglichkeiten schafft für möglichst alle, die alle mitnimmt, auch gerade die, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

Seien wir ehrlich: Weder die Mütterrente noch die abzugsfreie Rente mit 63 geben denen, um die es da geht, neue Perspektiven. Beim Mindestlohn bin ich – was die langfristige soziale und kulturelle Wirkung ausgeht – vorsichtig optimistisch.

Doch lassen Sie mich zurückkommen zu diesem Urversprechen der sozialen Marktwirtschaft. Lassen Sie uns die Gründerväter hören, zum Beispiel Ludwig Erhard:

„Die Freiheit der Märkte bedeutet nicht Freibeutertum und sie bedeutet nicht Verantwortungslosigkeit. Nicht der sinn- und seelenlose Termitenstaat mit seiner Entpersönlichung des Menschen, sondern der organische Staat, gegründet auf die Freiheit des Individuums, zusammenstrebend zu einem höheren Ganzen, das ist die geistige Grundlage, auf der wir eine neue Wirtschaftsordnung aufbauen wollen.“

Oft scheint heute das genaue Gegenteil vorzuherrschen, dass sich nämlich alles der Ökonomie unterzuordnen habe. Dabei ist gerade der ökonomische Erfolg der Bundesrepublik auf genau diese Balance gegründet, auf den freien Markt mit der Leitplanke des Artikels 14. Eigentum verpflichtet!

Ein Blick zurück ins vergangene Jahr zeigt die Bertelsmann-Studie zur Wahlenthaltung, oder vielleicht besser Wahlverweigerung bei der Bundestagswahl 2013. Eine Erkenntnis lautet kurz zusammen gefasst: Wer nicht wählt, ist arm, arbeitslos und hat keine abgeschlossene Schulausbildung.

Ich habe vor einem Jahr – mancher wird sich erinnern – darüber nachgedacht, für wen wir Politik machen. Für die eine Hälfte, die uns wählt oder – stellvertretend – für die andere, der wir recht egal sind? Und ob das nicht sogar im Widerspruch zueinander stehen könnte.

Darauf zu achten, ist unsere Verantwortung auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen. Ich bin ganz zuversichtlich, dass ein guter Teil unserer stadtpolitischen Schwerpunktsetzungen den „Zärtlichkeitstest“ von Papst Franziskus bestehen würde.

Denken Sie beispielhaft nur an

  • die Investitionen in Bildung und Betreuung im frühkindlichen Bereich,
  • unsere Schulhausbauinitiative,
  • den Zehn-Punkte-Plan gegen Kinderarmut,
  • den Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit in der Stadt,
  • die Seniorennetzwerke in den Stadtteilen,
  • den Kulturzugang für alle Kinder – vom Kulturrucksack bis Mubikin,
  • unsere Integrationsarbeit

Das ist Politik, von deren Notwenigkeit wir im Rat mit großer Mehrheit überzeugt sind. Da kann aus Maßnahmen und Investitionen wieder Vertrauen entstehen.

Die Stadt wächst. Sie ist attraktiv und bietet viel Lebensqualität. Darüber stimmen die Menschen mit den Füßen ab. Im Bereich der Stadtentwicklungspolitik werden in den nächsten Jahren wichtige Weichen für die Zukunft gestellt (Quelle, Südbahnhofgelände, Hochschulansiedlung auf AEG, Langwasser T und Z und Tiefes Feld).

Das zeigt: Die Stadt, jede Stadt, aber gerade auch unsere hat einen „Möglichkeitenüberschuss“, sie ist nicht etwa eine Ansammlung von Problemen.

„Wer Angst hat, verpasst das Mögliche“. Ich möchte den Satz umdrehen: Wer Möglichkeiten hat, verpasst die Angst!

Diese Möglichkeiten zu schaffen, ist unsere Aufgabe jenseits aller tagesaktuellen Fragen.

Was bleibt, sind die Wünsche: Glück und Gesundheit – wie immer. Und das letzte Wort gehört dem Club. Wer Angst hat, der verpasst das Mögliche. Wer so leidenschaftlich verrückt ist wie die Clubfans, hofft auf das Unmögliche.

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